Leseproben aus dem Buch »Sommerfrische in früheren Zeiten«

Lese-proben aus dem Buch »Sommer-frische in früheren Zeiten«

Thomas Mann und das Sommerhaus auf der Kurischen Nehrung

 

von Raimund Gründler

Rund zwei Stunden nach dem Start in München landen die Flugzeuge schon wieder auf Mallorca und die Passagiere befinden sich in ihrem Urlaubsparadies. Einige Münchner haben sich dort ein Feriendomizil eingerichtet und suchen es dank der kurzen Anreisezeit möglichst häufig auf. Wie groß muss aber die Begeisterung für einen Ort sein, wenn man sein Ferienhaus an einem zwei Tagesreisen entfernten Platz erbaut?

Genau dies tat im Jahr 1929 der zu jener Zeit in München lebende Schriftsteller Thomas Mann. Seinen Bauplatz fand er nicht auf der spanischen Mittelmeerinsel, sondern in entgegengesetzter Richtung auf der an der Ostseeküste gelegenen Kurischen Nehrung. Die Anreise war umständlich: Mit dem Nachtzug ging es zunächst von München nach Berlin.

Karlsbad, © RalfGervink

Dort musste nicht nur der Zug gewechselt werden, sondern gleich noch der Bahnhof. Was wir heute noch von Paris kennen, war im Berlin vor den Zerstörungen im 2. Weltkrieg und der folgenden Teilung der Stadt ebenfalls selbstverständlich, denn es gab keinen zentralen Hauptbahnhof und keinen Durchgangsbahnhof. Die aus München kommenden Züge fuhren üblicherweise im Anhalter Bahnhof ein. Weiter ging es für Thomas Mann und seine Familie aber vom Schlesischen Bahnhof. Von dort fuhr der Nachtzug in die ostpreußische Provinzhauptstadt Königsberg ab. Den Weg von Bahnhof zu Bahnhof legte man mit Taxi, Bus oder Stadtbahn zurück. Auch das Gepäck musste transportiert werden. Ein lebendiges Bild des Verkehrs zwischen den Berliner Bahnhöfen vermittelt Hans Fallada in seinem Roman »Ein Mann will nach oben«, in dem dieses Thema eine zentrale Rolle einnimmt.

In Königsberg angekommen, ging es für die Manns mit dem Taxi weiter an die Ostseeküste nach Cranz (heute Selenogradsk) und von dort schließlich zum Abschluss noch für gut drei Stunden auf die Fähre. Erst dann war das Ziel Nidden (heute Nida) erreicht, ein Fischerdorf auf dem schmalen Sandstreifen der Kurischen Nehrung. In Anbetracht einer solch aufwändigen Anreise stellt sich schon die Frage, wie Thomas Mann auf die Idee kam, ausgerechnet an diesem, für ihn so schwer zu erreichenden, Ort sein Ferienhaus zu bauen. Eine Antwort hat er in einem Vortrag gegeben, den er im Dezember 1931 vor den Münchner Rotariern hielt, und für den er das Thema »Mein Sommerhaus« gewählt hatte. Über seine erste Begegnung mit dem Ort und der Landschaft stellte er fest: »Wir fuhren also für einige Tage nach Nidden auf der Kurischen Nehrung und waren so erfüllt von der Landschaft, dass wir beschlossen, dort Hütten zu bauen, wie es in der Bibel heißt.« Zuvor hatte er schon im Mai 1930 in einem Beitrag für die Bäder-Sonderausgabe der Königsberger Allgemeinen Zeitung notiert: »Welchen Eindruck Nidden, seine unglaubliche Dünenlandschaft, seine herrlichen Wälder, sein wildes Meer, die Idyllik seines Haffstrandes auf mich gemacht, das habe ich pantomimisch angedeutet, indem ich mir ein Sommerhäuschen dort einrichtete, wo ich fortan mit meinen Schulpflichtigen die grossen Ferien verbringen will.«

Diese Empfindungen zu teilen, fällt jedem leicht, der auf einer der mächtigen Dünen der Kurischen Nehrung steht und über Land und Wasser blickt. Vermutlich gehört dieser knapp einhundert Kilometer lange, von drei Seiten von Wasser eingefasste, schmale Landstreifen zu den außergewöhnlichsten Landschaften Europas. Hoch im Nordosten des Kontinents gelegen, erinnert er mit dem Zusammenspiel von Wasser, Sand, Pinien- und Kiefernwäldern an südlichere Gefilde. Im Westen gleitet das Auge über einen schneeweißen Sandstrand und verliert sich anschließend in der unendlichen Weite der Ostsee. Ebenso findet der Blick im Osten über weite Strecken nur an besonders klaren Tagen oder mit Hilfe eines Fernglases Halt in einer Uferlandschaft jenseits des Wassers. Hier liegt, vom offenen Meer abgeschirmt durch die Dünen der Nehrung, auf denen der Betrachter steht, das süßwasserhaltige Kurische Haff vor der Küste des Festlands.

Berg am Berg

von Christine Piswanger-Richter

Alban Berg Villa in Trahütten, Steiermark, CC1.0, Autor: Josef Moser

Wo hätte Alban Berg seine Sommer verbracht, wenn Kaiser Franz Joseph nicht so ein Hallodri gewesen wäre? Schwer zu sagen, aber wahrscheinlich eher nicht im idyllischen Bergdorf Trahütten nahe Deutschlandsberg.

Um zu erläutern, wie es dazu kam, muss man die Beziehungen eine Generation vor Alban Berg betrachten: Da steht zunächst Anna Nahowski im Mittelpunkt. Sie wurde 1859 in Wien geboren und wurde im jungen Alter von 15 Jahren mit Johann Heuduck verheiratet. Der war ein spiel- und alkoholsüchtiger Seidenfabrikant. Rund ein Jahr nach der Verehelichung lernte sie Kaiser Franz Joseph I. am frühen Morgen beim Spazierengehen in Schönbrunn kennen.

Schon bald dürfte der Kaiser seine fast 30 Jahre jüngere »Spazierbegleitung« finanziell unterstützt haben, denn als sich Anna nach drei Jahren Ehe von ihrem Mann scheiden ließ, hinterlegte sie einen hohen Geldbetrag für ihn. Anna heiratete ein zweites Mal, diesmal war Franz Nahowski, ein Beamter der Südbahngesellschaft, ihr Auserwählter. Auch diese Ehe war nicht glücklich. Nahowski galt als Schürzenjäger und machte immer wieder Schulden, die Anna tilgte. Möglich wurde das durch Geldgeschenke des Kaisers, mit dem sie mittlerweile eine Liebesbeziehung eingegangen war. Über die Höhe dieser Geldgeschenke divergieren die Angaben, von 100.000 bis 200.000 Gulden reicht die Bandbreite. Die Nahowskis wohnten nahe Schönbrunn, zunächst in Wien-Hetzendorf, später in der Maxingstraße in Hietzing, direkt neben dem Schönbrunner Schlosspark. Ein regelmäßiges Zusammentreffen zwischen dem Kaiser und seiner Geliebten war daher leicht möglich und von beiden Seiten sehr erwünscht. Die pekuniären Zuwendungen des Regenten ermöglichten den Nahowskis den Erwerb eines Anwesens im steirischen Trahütten. Mindestens eines, vielleicht auch zwei der insgesamt fünf Kinder Annas sollen Franz Joseph zum Vater haben. Das Verhältnis der beiden dauerte über zehn Jahre. Franz Joseph beendete es schließlich nach der Mayerling-Tragödie – zwar großzügig, aber doch auch sehr unpersönlich: Anna wurde in die Hofburg bestellt und ein ihr unbekannter Baron sollte ihr eine Abfindung des Kaisers übergeben, dessen Höhe sie selbst bestimmen durfte. Als einzige Gegenleistung forderte der Kaiser Stillschweigen über die »Begegnung« mit dem Kaiser. Anna erhielt dadurch nochmals 200.000 Gulden. Die Anschaffung einer Villa war nun im Bereich der finanziellen Möglichkeiten der Familie Nahowski. Warum sie sich für den Luftkurort Trahütten entschied? Auch da könnte Kaiser Franz Joseph seine Beziehungen spielen gelassen haben, denn das Gebiet unterstand von 1282 bis 1918 der Herrschaft der Habsburger. Nach der damaligen Vierteleinteilung der Steiermark lag Trahütten im Viertel zwischen Mur und Drau.

Die Villa in Trahütten nutzten die Nahowskis regelmäßig in den Sommermonaten. Sie war ursprünglich von Freiherr von Kalchberg 1854 errichtet und von den Vorbesitzern Fürst Franz und Fürstin Henriette Liechtenstein erweitert worden. Das Gebäude ist im Jugendstil gehalten und liegt auf einer kleinen Anhöhe mit rundum freiem Blick. Die Gipfel der Koralpe tragen ebenso zum Panorama bei wie das Deutschlandsberger Tal und in weiterer Ferne die Ausläufer der Karnischen Alpen in Slowenien. Der Stil des Hauses setzt sich gravierend von den umliegenden Häusern ab. Die Villa fällt schon von weitem auf.

Anna Nahowskis Tochter Helene gilt als Spross des Kaisers. Alle historischen Quellen schreiben vorsichtig »mutmaßlich«, Alma Mahler ist da weniger diskret in ihren Memoiren: »Helene, seine Frau, war eine Tochter Kaiser Franz Josephs mit einer fast fünfzig Jahre jüngeren schönen kleinen Korbflechterin, die der Kaiser zufällig einst in seinem Park in Schönbrunn um vier Uhr früh kennengelernt hatte.«

Eichsfelder – »mit Kisten und Kasten« auf Reisen

von Thomas Hanstein

Als wir unsere Koffer für die letztjährigen Sommerferien packten, fiel mein Blick etwas länger als sonst auf ein Urlaubsfoto meiner Großeltern: Es zeigt sie beschwingt, aber mit ernstem Blick auf einer Bank an der Ostsee sitzen. Man spürt der Schwarz-Weiß-Aufnahme an, dass es ein besonderer Moment für die beiden war, den sie in diesen Tagen erlebten – obwohl äußerlich nicht vieles anders war als daheim. Das Bild entstand während der zum dreißigsten Hochzeitstag nachgeholten »Flitterwochen«. Es sollte der einzige Urlaub meiner Großeltern bleiben. Sie hatten die Fahrt auf einer langen, nach heutigen Verhältnissen beschwerlichen, Reise mit der Regionalbahn zurückgelegt. Während der Kriegsjahre geheiratet und ihre ersten Kinder bekommen, wären sie auch später, in besseren Jahren, nie so vermessen gewesen, einen jährlichen Urlaub als selbstverständliche Planung anzunehmen.

Alban Berg Villa in Trahütten, Steiermark, CC1.0, Autor: Josef Moser

Einmal im Leben die besondere Sommerfrische der See genießen – davon zehrten und erzählten sie bis zum Ende ihrer Tage.

Diese Haltung ist nicht nur ein persönlicher Zug des väterlichen Teils meiner Familie, sondern auch in der mentalitätsmäßigen Prägung ihrer Heimat zu suchen. Beide waren geborene und erzogene Eichsfelder. Beim Eichsfeld [hart ausgesprochen: aiksfelt] handelt es sich um einen katholisch geprägten Landstrich zwischen Werra und Harz, der historisch bis 1802 das kurmainzische Fürstentum Eichsfeld bildete, wovon bis heute das Mainzer Rad im Wappen zeugt. Danach fiel das Eichsfeld unter Friedrich Wilhelm an Preußen. Da sich im deutsch-französischen Krieg 1870/71 die noch junge Eisenbahn als Beförderungsmittel von Soldaten und Kriegsgerät bewährt hatte, wurde bereits im Jahr nach dem Krieg in Berlin eine Bahnlinie ins Auge gefasst, die von der Reichshauptstadt bis nach Koblenz reichen sollte, mit Weiterführung nach Metz, was nach der Angliederung von Elsass-Lothringen als strategisch sinnvoll erschien. Von dieser insgesamt 800 km langen Trasse war mit dem Baubeginn 1875 auch das Eichsfeld betroffen, und zwar aufgrund des Abschnitts von Leinefelde (Thüringen) nach Eschwege (Hessen). Für wenige Jahre erlebten die Fuhrgeschäfte Eichsfelder Bauern, die Steinbruchbesitzer und nicht zuletzt die Schankstuben der angrenzenden Orte eine Blüte in dieser zur damaligen Zeit kaum erschlossenen, ländlichen Region. Der Bau der bis heute so bezeichneten »Kanonenbahn« sicherte vor allem die Arbeit von Tagelöhnern und Handwerkern, denn die anstehenden Trassenaushub- und Tunnelbauarbeiten durch den lehmigen und steinigen Boden des Obereichsfeldes waren so umfangreich, dass sie nur durch zusätzliche kräftige Hände zu bewältigen waren; vorrangig kamen Italiener, Polen und Kroaten zum Einsatz. Mächtige Brücken waren durch das hügelige Land zu errichten, das Viadukt über Lengenfeld unterm Stein ist das bis heute imposanteste Brückenbauwerk der Eichsfelder Kanonenbahn. Diese Brücke überspannt gleichsam das ganze Tal, in dem auch das Dorf Lengenfeld liegt. Das Bild und die Perspektiven machen auch heute noch deutlich, welchen epochalen Einschnitt, aber auch welche ökonomische und kulturelle Rolle der Bau der Eisenbahn für das Eichsfeld spielte.

Wirtschaftlich erlebte diese Region einen Aufschwung, sozial-kulturell musste man sich mit anderen Auffassungen auseinandersetzen, und die neuartige Anbindung über die Bahn sollte mittel- und langfristig das gesamte Leben im Eichsfeld verändern:

Dabei waren die Auseinandersetzungen eng mit der religiösen Haltung verbunden. Die Steigungen, Gefällstrecken und auch der Kurvenreichtum dieser Strecke brachten eine längere Bauzeit als erwartet mit sich. Daher wurden auch Nachtschichten zur Normalität, und auch an Sonntagen sollte bei Bedarf durchgearbeitet werden. Hiergegen legte die Eichsfelder Geistlichkeit Widerspruch ein – und die Eichsfelder Eisenbahnarbeiter kamen diesem Protest wie selbstverständlich nach. Die Eichsfelder Kanonenbahn von Leinefelde nach Eschwege wurde – auch ohne wesentliche Sonntagsarbeit – bereits 1880 fertiggestellt und am 15. Mai desselben Jahres unter reger Beteiligung der Öffentlichkeit eingeweiht. Wenngleich die militärischen und strategischen Erwartungen der Auftraggeber aus den oben erwähnten topografischen Gründen nicht erfüllt wurden – auf der Strecke kam nie ein durchgehender Zug von Berlin nach Koblenz bzw. Metz zum Einsatz, ebenso wenig eignete sich die Trasse letztlich für Schnellzüge –, so bescherte die Eisenbahn dem Eichsfeld doch eine Reihe an Bahnhöfen, durch welche einige Orte dieser ländlich geprägten Region nun besser angeschlossen waren. Von einer dieser Stationen – vielleicht Küllstedt im Obereichsfeld – dürften damals, fast 100 Jahre nach dem Bau der Strecke, auch meine Großeltern ihre Fahrt an die Ostsee angetreten haben.